Mit dem Frachtschiff nach Iquitos • Geiselnahme in der Hängematte • Teil 3
• Frachtschiff nach Iquitos • Teil 1
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• Frachtschiff nach Iquitos • Teil 3
5.30 Uhr, das Frachtschiff stand still und Daniel sagte zu mir: „Ehm… wir sind gerade… Geiseln.“
Okay. Moment.
5.30 Uhr.
Da baumelt man in der Hängematte, wird gerade wach und das ist der erste Satz, den man hört? Für Morgenmuffel eine Herausforderung, aber interessant genug, um alle Synapsen anspringen zu lassen und zu fragen:
„Was?!“
„Wir sind mitten in den Protest gefahren, von dem ich euch vor ein paar Tagen erzählte.“, sagte Rio plötzlich.
Er hatte sein Lager direkt neben mir und klärte uns über die Situation auf: „Ein Dschungelvolk möchte, dass der Präsident herkommt.“, begann er.
„Sie möchten, dass der Fluss nicht mehr verschmutzt wird, weil dies der einzige Zugang zu Wasser ist. Durch die Öltanker, die hier entlang fahren, ist der Fluss vergiftet. Geht hier jetzt übrigens nicht auf dem Schiff duschen – das Wasser kommt ja von dem Fluss und es ist… nun ja… wirklich vergiftet.“ Ich schaute auf das Wasser. Die Müdigkeit war mit einem Mal wie weggewischt.
„Die Leute möchten, dass sie gehört werden und in den Medien erscheinen. Ich weiß nicht, ob sie Geld wollen oder was genau sie bezwecken. Aber sie halten jetzt alle Schiffe auf, die hier vorbeifahren, um den Warenverkehr zu stoppen – wichtiges Geld für die Wirtschaft, was hier gerade gestoppt wird und das wissen sie, deshalb… Aber ihr könnt aber ruhig rausgehen. Wir wissen noch niemand, wann wir wieder weiter können und es ist nicht gefährlich. Also, noch nicht.“
Keine Frage, das wollten wir uns ansehen!
3 Minuten später standen wir am Ufer.
Am Ufer eines kleinen Dorfes mitten im Dschungel des Amazonas. Der einzige Weg hierhin ist der Fluss, über den wir gekommen waren – selbst wenn es hier ein Auto gäbe, würde es nichts taugen. Denn hinter den Häusern beginnt der Dschungel. Schilder, die sagten, dass das Wasser nicht mehr vergiftet werden soll, begrüßten uns.
Menschen mit Speeren, Pfeil und Bogen liefen umher. Einige mit Federn um den Kopf. Falls du dir jetzt vorstellst, dass sie Tarzan-mäßig dort herumspaziert sind: Nein. Ganz normal mit Fußballtrikot, Jeans, Shirts, Schuhen. Nur eben… mit Speeren.
Herzlich Willkommen in einer gänzlich anderen Welt.
Wir gingen an Hütten vorbei, vor denen kleine Kinder saßen und uns schüchtern musterten. Wir gingen an kleinen Gärten vorbei, in denen sie ihr Gemüse anbauten. Jemand hing Wäsche auf. Kinder kamen uns auf Fahrrädern entgegen und wenn wir grüßten, lachten sie schüchtern los. Einige Kinder übten ihren Speerwurf. Man winkte uns zu, hieß uns mit einem Lächeln willkommen.
Das hatten wir dabei!

Das hatten wir dabei!
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zur Peru PacklisteIm Blickwinkel immer die großen Schilder am Ufer.
Ja, willkommen in der anderen Welt. In der Welt, in der all das passiert, was wir immer als „soweit weg“ bezeichnet haben. Ein kleines Dorf mitten irgendwo Dschungel macht einen Aufstand wegen der Ölfirmen?
Irgendein Fluss ist vergiftet, weil das Öl für unsere Welt befördert wird?
Die Menschen protestieren, weil sie ihre Kinder nicht mehr im Fluss baden können?
Ja richtig, irgendwo da im Amazonas.
Nur war es an diesem Tag nicht irgendwo dort, sondern genau hier.
Wo wir gerade standen.
Ganz ehrlich? Es hat sich verdammt mies angefühlt sich selbst eingestehen zu müssen, wie man im Alltag ignoriert hat, welche Auswirkungen sein Leben und sein Standard eigentlich haben. Dabei ging es uns bei dem Gedanken nicht nur um die Situation, in der wir waren. Sondern um all die Situationen während der Reise, in der genau dieses Gefühl hochkam. Und das war nicht selten.
Wir gingen einmal um die Wiese herum, sagten recht wenig. Fasziniert von der Situation, interessiert an dem Leben und gefesselt von den Gedanken, die in den Momenten durch den Kopf rasten.
Plötzlich versammelten sich einige Männer in der Mitte der Wiese, sie teilten sich auf und…
…zockten erst mal eine Runde Fuppes zusammen! Einige Männer unserer Bord-Crew waren mit dabei, von anderen Schiffen und von diesem Dorf. Sie mixten Teams und spielten einfach nur gemeinsam Fußball – war ja sonst wenig zu tun und wo doch gerade mal so viele Zuschauer da waren – warum nicht! 😀
Es war ein herrlicher Anblick – mitten im Amazonas schaut man sich ein Fußballspiel an und ist Zuschauer zwischen Männern und Frauen mit Speeren, Pfeil und Bogen, haha.
Bis das nächste Schiff auf dem Fluss gesichtet wurde.
Und dann ging alles ganz schnell: Die Männer rannten zum Ufer, schnappten sich ihre Speere, sprangen in Holzkanus und in ein größeres Boot, um das Schiff aufzuhalten. Sie fuhren dem Schiff einfach entgegen, zwangen den Kapitän, zu bremsen und ans Ufer heranzufahren. Sie waren entschlossen, jedes Boot und jedes Schiff anzuhalten.
Rio stand neben uns, während wir gespannt auf das Schauspiel starrten.
„Wenn sie nicht anhalten, werden sie auf das Schiff gehen. Ich weiß nicht, was dann passiert, aber ich weiß, dass die Stimmung hier kippen wird, wenn jemand versucht abzuhauen.“
Das Schiff driftete zur Seite, verlor an Geschwindigkeit und wurden von den Kanus schließlich ans Ufer begleitet. „So hat es bei uns heute Nacht auch ausgesehen – habt ihr denn nichts gehört? Sie haben geschrien und gegen das Schiff gepoltert“
Daniel und ich schauten uns an. Die Hängematte ist definitiv viel zu bequem. Nichts davon haben wir auch nur ansatzweise mitbekommen und stattdessen geschlafen wie Babys.
Es fing langsam an zu regnen und wir gingen zurück zur Wiese, setzten uns auf eine Bank.
Neben uns kochten die Familien für all die Protestler in riesigen Kochtöpfen. Reis, Hühnchen, Bananen.
Wir sprachen natürlich nicht ihre Sprache, aber wir haben sie verstanden, als sie uns antippten und auf den Topf zeigten. Sie hatten uns gerade ihr Essen angeboten. Wow. So sieht also Protest im Amazonas aus… Wir versuchten uns gestikulierend zu bedanken, als uns dann Rio vom Ufer zu sich rief und unser Schiff das Horn läuten ließ.
„Was ist los?“
„Sie werden sich wohl gleich beraten und entscheiden, ob wir weiter ziehen dürfen. Kommt schon mal auf das Schiff…“ und wir gingen zurück an Bord. An der Reling beobachteten wir noch die Situation und schauten raus.
Das Dorf, der Dschungel, die Menschen, die gesamte Situation.
Plötzlich fing es stärker an zu regnen und das erste, was wir sahen, waren Kinder, die auf die Wiese liefen. Sie ließen sich fallen, rissen die Gesichter gen Regen und genossen jeden Tropfen. Die Klamotten wurden nass, die Haare, die Haut, aber das war egal. Denn es zählte nur eins: Das Wasser war nicht vergiftet.
Mittlerweile hatten wir uns auf den Boden gesetzt, lehnten an der Wand und beobachteten einfach nur. Ich denke, dies waren die Minuten, in denen sich etwas in unseren Köpfen tat. In denen Einstellungen, Fragen und Ansichten umformiert wurden. Nicht nur hierauf bezogen.
Wir sagten wenig.
Zwischendurch gingen wir zurück in unsere Hängematten, schliefen, spazierten auf dem Schiff umher. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, vielleicht einige Stunden, als sich die Männer des Dorfes in der Mitte der Wiese versammelten. Die Beratung hatte also begonnen. Die Leute auf dem Schiff gingen alle gespannt zur Reling.
Es wurde laut diskutiert, einige Männer standen mit Speeren vor der Runde und verhinderten, dass jemand der Runde zu nah kommt. Die Runde wurde aufgelöst und was am Ende besprochen oder verhandelt wurde, wussten niemand..
Jedoch spürten wir, wie wir einige Minuten später ablegten.
Alle liefen nach vorn, um zu schauen, was passiert: ob wir tatsächlich ablegen, einfach fliehen, alle jetzt hinter uns her sprinten oder… wir „freigelassen“ wurden.
Wir standen vorn und scheinbar hatte man uns die Erlaubnis gegeben, weiterzufahren… denn die Dorfbewohner standen am Ufer und winkten uns zu. Wir winkten zurück. Das letzte, was wir noch sahen, waren die Protestplakate und ihre Forderungen: „Keine Umweltverschmutzung mehr.“
„Wir… waren Geiseln?!“
Ja, zwar war es eine liebevolle Geiselnahme mit Dorfbewohnern des Dschungels, die uns grüßten, mit Kindern, die uns zuwinkten, einem Fußballspiel im Amazonas und noch mit Essen, das uns angeboten wurde – aber: Wir waren faktisch gesehen Geiseln!
14 Stunden hatten sie uns festgehalten. Und wir waren nicht eine Sekunde genervt von der Situation, das wir feststeckten. Im Gegenteil.
Rio kam zu uns und legte gerade sein Handy beiseite.
„Ich wurde angerufen von den Leuten, die mich in der Stadt erwarten. Sie machen sich Sorgen, weil in den Nachrichten berichtet wird, dass Frachtschiffe von einem aggressiven Dorfvolk festgehalten und bedroht würden.“ Wir schüttelten mit dem Kopf und lachten los.
„Das Dorf erfährt nicht, wie über sie berichtet wird. Nun denkt ganz Peru, sie wollen Böses und halten die Schiffe brutal fest. Und sie haben keine Chance etwas klarzustellen.“
Ob jemand von der Regierung gekommen ist?
Ob sie erreicht haben, was sie wollten?
Wir wissen es nicht.
Am nächsten Tag sahen wir, wie wir uns der Stadt Iquitos näherten. Unser Ziel.
Freude? Erleichterung? Ein Endlich-Angekommen-Gefühl? Nein.
Wir haben uns auf dem Schiff mehr als wohlgefühlt.
Umgeben von den Menschen, von der Natur – und der Erfahrung, wie es ist, ohne Zeit zu leben.
Mit jedem Meter, den wir näher an die Stadt kamen, näherte sich wieder die andere Welt.
Eigentlich sollte die Fahrt nur ein Transportweg sein, das Frachtschiff das Transportmittel.
Vielleicht noch ein abenteuerliches Erlebnis, an das wir zurückdenken werden.
Und dann sollten diese 6 Tage jene auf unserer Reise werden, die uns am meisten beigebracht und gezeigt haben.
„Sind das die Hängematten aus Peru? Wo ihr auf dem Frachtschiff wart?“
fragten letztens Freunde, als sie hier waren. Ich glaube, wir werden niemals ohne ein breites Grinsen darauf antworten können: „Ja.“
Denn die Hängematten hatten wir natürlich eingepackt: mit viel stopfen und neu einsortieren haben sie tatsächlich noch in die Backpacks gepasst!
Als ob wir diese Erinnerung irgendwo in Peru gelassen hätten!
Also sind wir die restlichen Monate mit viel zu großen Hängematten im Rucksack durch Südamerika gereist… und landeten am Ende damit ja auch noch in New York, haha!
Jetzt gerade liegen sie hier neben mir im Wohnzimmer. Ein Blick auf die Hängematten und wir rufen uns das Gefühl blitzartig wieder hervor: wie es war, 6 Tage losgelöst von Zeit und allem anderen zu sein.
Hallihallo ihr beiden,
da man ja momentan nicht verreisen kann habe ich mir überlegt mal eure Reiseberichte zu lesen,da ich die Vlogs, besonders aus dem Amazonasgebiet sicherlich schon 2-3 mal geschaut habe.
Aber ich muss sagen diesen Reisebericht zu lesen mit all euren Gedanken und Emotionen zu so verschiedenen Themen war einfach toll und lässt einem selbst von der großen weiten Welt träumen.
Ich würde es total toll finden wenn ihr vielleicht über diese Erfahrungen auf dem Frachtschiff und was das mit euch gemacht nochmal einen Podcast machen würdet.
Liebe Grüße von der Küste
Sophie
Hey Sophie!
Wie schön, dass du hier an die Reiseberichte gedacht hast und sogar so weit zurück! Hammer, das freut uns! 🙂
Haben die Podcast-Idee notiert, klingt eigentlich echt ganz cool als Podcast-Episode!
Danke für die Idee! 🙂
Geniale Geschichte. Ich hoffe das bald alles wieder seine Normalität bekommt wegen dem Virus. Ich lebe derzeit in Costa Rica und möchte dieses Jahr noch nach Ecuador fliegen und von dort los gehen Richtung Chile.
Eure HP hab ich schon gespeichert und diese Schiffsreise ist fix im Plan. Danke dafür. Alles Liebe ubd Gesundheit Jürgen
Vielen lieben Dank, das wünschen wir dir auch! Sind gespannt, wie sich die Lage entwickeln wird…
Wegen dieses Artikels sitze ich jetzt in Yurimaguas und warte auf die Abfahrt morgen 🙂
Vielen Dank dafür, wir sind jetzt schon wahnsinnig entspannt und voller Vorfreude auf die Zeit!
Wie cool ist das denn! 🙂
Ich wünsche euch eine unvergessliche Zeit auf dem Boot und in diesem Fall sogar eine freundschaftliche Geiselnahme, um noch mehr in das Leben dort eintauchen zu können!
Macht es euch in der Hängematte bequem und genießt den Ausblick auf die Amazonas-Landschaft! 🙂
Liebe Grüße
Daniel
Ganz toll geschrieben, da habt ihr wirklich ein unglaubliches Abenteuer erlebt. Dafüe geht man auf Reisen. 🙂
Allerdings… du bringst es auf den Punkt. 🙂
Ich glaube, dass ist der Sinn des Reisens. Die Dinge von allen Seiten tatsächlich erleben zu können. Die Menschen, Kulturen und die Konflikte. Ihr habt erlebt, was die Zerstörung der Natur mit sich bringt und welchen Einfluss wir doch haben. Puzzleteile, um sein Handeln und seine Denkweisen zu hinterfragen. Klasse geschrieben, Ania
Du bringst es schön auf den Punkt: Puzzleteile. Genauso fühlte es sich während der Reise an. Stück für Stück sehen, dazulernen, hinterfragen und merken: Da gibt es noch so einiges, das wir wissen sollten…
Das Erlebnis war etwas ganz Besonderes für uns, nicht nur eine tolles Abenteuer. Und da stimmen wir dir zu: Genau darauf kommt es beim Reisen an…
Lieben Dank für den Kommentar, Sindy! 🙂
Ania